Anne Roth über das Beobachtetsein

Gestern hat Anne Roth auf freitag.de in einem eindrücklichen Artikel geschidert, wie es ist, Gegenstand staatlicher Überwachung zu sein. Sie schildert, wie die Familie über ein Jahr lang von den Behörden überwacht wurde, weil ihr Freund Andrej Holm aufgrund seiner Arbeit als Wissenschaftler als Kopf einer terroristischen Vereinigung betrachtet wurde:

Ich weiß, wie es sich anfühlt, vor der eigenen Haustür zu stehen und eine Kamera im Rücken zu haben. Ich wusste nie genau, wo sie war, aber ich habe inzwischen die Protokolle der Aufzeichnungen gelesen. „Mann mit Kleinkind und leeren Getränkekisten verlässt das Haus.“ Eine halbe Stunde später: „Mann mit Kleinkind betritt das Haus“, steht da zum Beispiel über meinen Freund und unsere Tochter. Ich habe auch die Kommentare zu meinen eigenen Telefonaten gelesen, die die Beamten mitgehört haben. Lange habe ich die Lektüre allerdings nicht ausgehalten. Mir wurde davon übel.

Allein schon diese Beschreibungen kennt man eher aus Berichten über die Stasi-Tätigkeiten in der DDR. Insofern kann man zu Recht verstehen, daß es der Bloggerin Anne Roth davon übel wurde. Aber schlimmer wiegt, wie wohl jeder wissen dürfte, bei dem schon einmal eingebrochen wurde, dieses diffuse Gefühl, daß man in seiner eigenen Wohnung nicht mehr allein, sondern gewissermaßen verletzlich ist. Und wie auch jemand, bei dem eingebrochen wurde, sich danach dann anders verhält, indem man dann schaut, daß keine wertvollen Dinge offen herumliegen, alle Fenster lieber zweimal kontrolliert, ob diese auch verschlossen sind oder auch bei komischen Geräuschen in der Wohnung zusammenzuckt, verhält man sich auch anders, wenn man weiß, daß man beobachtet wird: 

Menschen verhalten sich anders, wenn sie wissen, dass sie beobachtet werden. Wer für sich anderes behauptet, stelle sich morgens beim Aufstehen eine Kamera vor, die dies live ins Internet überträgt. Ich habe zwei Monate nach Andrejs Festnahme begonnen, über unseren Alltag mit der Überwachung zu bloggen. Ich blogge weiter, schreibe und rede über dieses und ähnliche Verfahren, über die Instrumentalisierung von Angst, über Terrorismus, über den scheinbaren Widerspruch von Freiheit und Sicherheit.

Und wenn ich über diese Themen schreibe, habe ich diese Stimme im Ohr. Vergangene Woche habe ich auf freitag.de den Text „Terror it is?“ veröffentlicht, der sich damit beschäftigt, dass nach den jüngsten Brandanschlägen auf die Bahn in Berlin wieder von Terrorismus gesprochen wird. Und schon beim Schreiben, am Anfang eines Textes über Brandanschläge, höre ich die Stimme fragen, ob das klug ist. Immerhin haben sie Andrej das Schreiben von Texten vorgeworfen, nicht das Legen der Brände. Der Beginn der Ermittlungen war, so das Bundeskriminalamt, die Übereinstimmung von verdächtigen Wörtern in seinen Texten mit denen in Anschlagserklärungen.

Wenn ich diesen Text schreibe, dann lesen die das auch. Und sie nehmen einen Kommentar in die Akten, dass ich mich offenbar für Brandanschläge interessiere. Auch jetzt frage ich mich, ob es klug ist aufzuschreiben, dass ich mir darüber Gedanken mache, was die davon halten. Wäre es nicht besser und einfacher, über andere Themen zu schreiben? Es gibt ja genug. Ich verbiete mir, mich davon einschränken zu lassen, aber die Stimme ist da.

Und hier beginnt dann schon die Schere im Kopf aktiv zu werden. Statt einfach darauf loszuschreiben, was man denkt und seine Meinung nach Artikel 5 des Grundgesetzes frei zu äußern, überlegt man, welche Auswirkungen dies vielleicht haben könnte, ob da nicht jemand ist, der eine andere Rechtsauffassung hat als die Gerichte haben oder ob man plötzlich eine böse Überraschung am Flughafen erlebt, sei es weil man komischerweise nicht mehr in die USA einreisen darf, sei es, weil man plötzlich am Flughafen aufgefordert wird, doch mal seinen Laptop (für die Installation eines Trojaners) abzugeben.

Wer jetzt "Ich habe nichts zu verbergen!" sagt, der lügt. Jeder hat etwas zu verbergen – und wenn es bloß sein Privatleben ist, das den Staat nichts angeht. Dadurch, daß Anne die Geschichte ihrer Beobachtung und der Verhaftung ihres Partners publik gemacht hat, kann man erkennen, welche Auswirkungen dieser Überwachungswahn auch auf diejenigen hat, die sich eben nichts zu Schulden kommen lassen haben, die aber dennoch überwacht werden und die dann sogar über Wochen wie Kriminelle in Untersuchungshaft im Gefängnis verbringen müssen. Das kann jedem passieren. Vielleicht aus anderen Gründen als bei Andrej Holm, aber da wir nicht die Anhaltspunkte der Sicherheitsbehörden kennen, wonach sie die Menschen in Gute und Böse einteilen, besteht die Gefahr für potentiell für jeden, der sich kritisch oder anderweitig nicht angepaßt verhält oder äußert.

Wenn zum Beispiel dein Handy seltsamerweise klingelt und niemand dran ist und dein Netzbetreiber auch nicht erklären kann, wie das technisch möglich ist, liegt die Vermutung in Zeiten von verfassungswidrig installierten und verwendeten Staatstrojaner durchaus nahe, Opfer von staatlicher Überwachung geworden zu sein.

Selbst jetzt noch, Jahre nach der Verhaftung, ein gutes Jahr nach Einstellung des Verfahrens, kann ich nicht ausschließen, dass der Verfassungsschutz weiter ein Auge auf uns hat. Es bedarf keiner besonderen Fantasie, um sich auszudenken, dass per Online-Durchsuchung auf verdächtigen Computern gefundene Namen, Bilder, E-Mail- oder Chat-Kontakte auch ins Raster geraten. Terrorismus ist einer der Straftatbestände, die die Online-Durchsuchung rechtfertigen.

Wie viele Terrorismus-Verfahren in Deutschland geführt werden, ist unbekannt, von den meisten erfahren die Beschuldigten nie: Sie werden nach Monaten und Jahren der Überwachung ergebnis-, aber für die Betroffenen eben nicht folgenlos eingestellt. In den Akten zu Andrejs Verfahren werden neben den Beschuldigten mehr als 200 Personen genannt.

Wenn bei jedem Ziel staatlicher Überwachungswahns 200 oder mehr Personen in Mitleidenschaft gezogen werden, dann sind das enorm viele Personen, bei denen mutmaßlich die Grundrechte ignoriert werden. Und es ein Skandal, daß all diese Leute noch nicht einmal hinterher davon erfahren, daß sie Opfer von Überwachunsgmaßnahmen wurden.

Seltsam ist auch, daß sich die meisten Bürger offenbar von den Behörden die Mär von der Terrorgefahr auf die Nase binden und sich die Grundrechte nehmen lassen. Insbesondere bei denjenigen wundert es mich, die vor knapp über 20 Jahren bereits schon einmal in einem totalitären Regime mit großem Erfolg für ihre Grund- und Freiheitsrechte auf die Straßen gegangen sind. Die Überwachung ist heutzutage weitaus dichter und engmaschiger als sie es damals bei der Stasi war, aber scheinbar stört es niemanden. Es ist offenbar ein Unterschied, ob Männer im Trenchcoat jeden Schritt verfolgen und auf Papier zu den Akten geben, oder ob eine automatische und elektronische Überwachung der Bürger erfolgt, die zudem noch in Windeseile mit anderen Daten abgeglichen und verknüpft werden kann.

Annes Artikel sollte eigentlich jeder lesen, der noch immer glaubt, daß der Staat nur auf der Jagd nach Terroristen und Schwerstkriminellen ist, aber einem unbescholtenen Bürger nichts passieren wird.

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