Frag deine Politiker 2011 – Silke Gajek, B90/Grüne antwortet

Im Rahmen meiner Aktion "Frag deine Politiker 2011" hat gestern auch die Spitzenkandidatin der Grünen, Silke Gajek, geantwortet. Da ich gestern morgen ja schon die Antwort von Dr. Ursula Karlowski veröffentlicht hatte, folgen nun heute die Antworten von Silke Gajek: 

1.) Die Wahlbeteiligung bei der Landtagswahl 2006 lag bei 59,1%, 2002 jedoch noch bei 70,6%. Würde dieser Trend bestehen, würden dieses Jahr weniger als 50% der Wahlberechtigten zur Wahl gehen. Wie kann man, ihrer Meinung nach, den Bürger wieder für die Politik begeistern oder sehen Sie einen Unterschied zwischen Politikverdrossenheit und Wahlverdrossenheit?


Mein Anliegen ist, die Bürgerinnen und Bürger in MV wieder mehr mitzunehmen und sie nicht vor vollendete Tatsachen zu stellen. Ich will einen Aufbruch zu einer echten Bürgergesellschaft. Das geht nicht von heute auf morgen. Dazu müssen Blockaden überwunden und Beteiligungsregeln geändert werden. Vor allem aber müssen die Menschen ernster genommen werden. Sie sind der wichtigste Schatz, den wir in unserem Land haben. Wir müssen ihrer Tatkraft, ihren Ideen und ihrer Fantasie in MV mehr Raum geben. Auf unser Land kommen in den nächsten Jahren erhebliche Veränderungen zu. Ich sehe daher auch die Verpflichtung der Politik, ehrlicher zu sein. Wenn ich mir so manche Wahlplakate von rechts bis links anschaue, dann habe ich nicht den Eindruck, dass das überall verstanden wird. Es gibt im Übrigen auch eine Verpflichtung der Medien. Dort werden häufig Konflikte und Streit zwischen den Parteien skandalisiert. Dabei ist der Wettstreit der Meinungen und der besten Konzepte ein zentrales Element der Demokratie. Es ist grundlegend und nichts was man skandalisieren müsste.

Was ich häufig beim Streit zwischen Parteien skandalös finde, ist, daß es allzu häufig gar nicht um die Sache geht, sondern daß die anderer Seite einfach schlecht gemacht werden soll. Es wird dann gar nicht mehr sachlich diskutiert. Die Medien tragen sicherlich ihr Übriges dazu bei, da es hier auch häufig nur noch um die schnelle Nachricht geht. Je schnell, je skandalöser, desto besser. Bis die nächste Sau durchs Nachrichtendorf getrieben wird.
Was die Bürgergesellschaft angeht, bin ich gespannt. Dazu bedarf es sicherlich einiger Änderungen, auch von Seiten der Politik mehr Bürgerbeteiligung zuzulassen.

2.) Im März gab es in Japan neben einer Naturkatastrophe auch noch einen atomaren Unfall. Dadurch hat sich die Stimmung in Sachen Atompolitik auch in Deutschland gewandelt. Die Bundesregierung reagierte mit dem erneuten Ausstieg aus der Atomenergie bis 2022. Gleichzeitig sollen die erneuerbaren Energien gefördert werden. Wie sehen Sie diese Entwicklung und welche Bedeutung hat dies für Mecklenburg-Vorpommern?

Die Energiewende ist eine Riesenchance für unser Land. Unser Ziel ist es, ab 2016 den Strom in MV nur noch durch erneuerbare Quellen zu erzeugen. Durch eine grüne Energiepolitik sollen 20.000 neue Arbeitsplätze in MV entstehen. Wenn Gemeinden ihren Strom selbst erzeugen, dann entstehen vor Ort zusätzlich auch Wertschöpfung und Steuereinnahmen. Dafür gibt es gute Beispiele in Österreich aber auch hier in MV. Die Landesregierung ist da nicht ehrgeizig genug. Ein Beispiel: In ihrem Programm „Energieland 2020“ gibt sie für die Photovoltaik für 2020 das Ziel von 150 MW an. Schon heute sind es aber 272 MW in MV. Wer sich keine ehrgeizigen Ziele setzt, der kann nichts erreichen. Auch bei den Windkraftinvestitionen lahmt MV. Nach Schätzungen des Bundesverbandes Windenergie beträgt der Investitionsstau durch die schleppende Freigabe von Eignungsflächen für Windkraftanlagen ca. 1,5 Milliarden Euro. 


Wind und Sonne zählen allerdings ja auch zu den problematischeren alternativen Energiequellen. Kleinere Wasserkraftwerke und dezentralisierte Blockheizkraftwerke mit Kraft-Wärme-Kopplung sind meiner Meinung nach zu wenig im Fokus der Betrachtungen, wenn es um die alternative Strom- oder Energieversorgung.

3.) Im Jahr 2007 fand in Heiligendamm der G8-Gipfel statt. Zu diesem Zweck wurden einige Gesetze erlassen und technische Maßnahmen ergriffen (z.B. Überwachungskameras), um die Sicherheit der G8-Teilnehmer zu gewährleisten. Im Frühjahr diesen Jahres wurden diese ursprünglich befristeten Gesetze entfristet, u.a. auch das Kfz-Screening, bei dem zehntausende von Kennzeichen automatisch erfaßt und mit einer Datenbank abgeglichen wurden. Dabei wurden hauptsächlich Verstöße gegen das Haftpflichtversicherungsgesetz festgestellt, jedoch kein einziger Terrorist entdeckt. Wie stehen Sie zu der Entfristung dieser Gesetze?

Heribert Prantl hat in der Süddeutschen Zeitung kürzlich völlig berechtigt ein Verfallsdatum für bestimmte Gesetze gefordert. Das gilt ganz besonders für die Anti-Terrorgesetze auf Bundes- und Landesebene. Abgesehen davon, dass diese Gesetze massiv in die Rechte unbescholtener Bürger eingreifen, kann ich auch keinen Bedarf für diese Regelungen erkennen. Wenn man sich die Berichte der Landesregierung beispielsweise zur Videoüberwachung anschaut, sieht man, wie viel Schindluder damit getrieben wurde. Eine Stadt hat ihren Friedhof überwachen lassen, weil dort Ordnungswidrigkeiten vermutet wurden. Das fast schrankenlose Abfassen von Handydaten kürzlich in Dresden zeigt ebenfalls, dass bei einigen keinerlei Hemmungen mehr bestehen. Insofern: Wir wollen die Videoüberwachung in MV wieder abschaffen. Das gilt auch für das Kfz-Kennzeichen-Screening.  


Häufig sind die Bürger sich gar nicht bewußt, wo sie alles videoüberwacht werden. Dabei sind es noch nicht einmal staatliche Kameras, sondern vielfach private Überwachungskameras in Geschäften und Restaurants.
Über Dresden brauchen wir gar nicht diskutieren. Das ist nur ein kleiner Vorgeschmack von dem, was uns blühen wird, wenn die Vorratsdatenspeicherung eingeführt werden würde.
Im übrigen kann ich auch Heribert Prantls Buch "Der Terrorist als Gesetzgeber: Wie man mit Angst Politik macht" als lesenswert empfehlen.

4.) Anfang des Jahres kam es in Tunesien, Ägypten und anderen Ländern zu Unruhe und teilweise zu erfolgreichen Revolutionen, die wie im Fall Syrien immer noch andauern und mitunter von den Machthabern blutig niedergeschlagen werden. Dabei spielt das Internet eine wichtige Rolle bei der Organisation von Protesten, so daß die Machthaber den freien Zugang zum Internet kontrollieren, einschränken oder gar komplett unterbinden. Wie stehen Sie zu dieser Art von Einflußnahme auf das Internet?


Mir ist es wichtig, dass die Menschen egal wo sie sind ihre Meinung frei sagen können und weder durch Sperren noch durch die Angst vor Sanktionen davon abgehalten werden dürfen. Der Versuch, das Internet zu kontrollieren, ist ja leider keine Entwicklung, die man nur in solchen Ländern findet. Kürzlich gab es in Großbritannien vor dem Hintergrund der Unruhen dort die gleiche Diskussion. Dabei ist das Internet schon lange kein rechtsfreier Raum mehr. Wir haben dort mittlerweile eine Regelungsdichte, wie wir sie uns in der realen Welt niemals gefallen lassen würden.  

Exakt. Da brauch ich auch gar nicht mehr viel zu sagen, außer daß man dieser Entwicklung Einhalt gebieten und dafür Sorge tragen muss, daß das Medium Internet durch eine starke, gesetzlich verankerte Netzneutralität auch weiterhin von jedem ungehindert und diskriminierungsfrei benutzbar bleibt.

5.) Nach dem 11. September 2001, also vor fast 10 Jahren, wurden zahlreiche Gesetze erlassen, die die Sicherheit der Bürger erhöhen sollen, aber gleichzeitig deren Freiheitsrechte einschränken. Im den Artikeln 1-19 des Grundgesetzes wird 20 mal der Begriff "Freiheit" aufgeführt, aber nur 2 mal der Begriff "Sicherheit". Wie stehen Sie zum Grundgesetz, der freiheitlich demokratischen Grundordnung und der Balance von Freiheit und Sicherheit?


Wenn man das sich rückblickend anschaut, dann wechseln auch die Begründungen für solche Gesetze. Mitte der 90er Jahre war es die organisierte Kriminalität, seit Anfang 2000 dann der internationale Terrorismus. Damit will ich nicht sagen, dass es diese Bedrohungen nicht gibt, aber es trägt nicht unbedingt zum Vertrauen in diejenigen bei, die da täglich neue Säue durchs Dorf treiben. Sicherheit ist sicher eine wichtige Aufgabe des Staates. Daraus legitimiert sich beispielsweise das staatliche Gewaltmonopol. Aber wir brauchen eine Balance von Freiheit und Sicherheit. Der Staat muss die Sicherheit und die Freiheit seiner Bürger garantieren. Ich habe den Eindruck, dass die Freiheit dabei langsam ins Hintertreffen gerät. Für mich gilt: Im Zweifel für die Freiheit.

Darauf zielte ja auch meine Frage ab: der Grundrechtekatalog im Grundgesetz scheint weitaus größeren Wert auf die Freiheit des Einzelnen als Abwehrrechte des Bürgers gegenüber dem Staat zu legen als auf eine etwaige Sicherheitsgarantie. Schaut man sich die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes durch den Parlamentarischen Rat nach dem zweiten Weltkrieg an, so wird die Bedeutung der Freiheit meiner Meinung nach sogar noch deutlicher.
Auch ich sehe, was vermutlich wenig überraschend sein dürfte, die Freiheit als oberste Norm an. Nachrangig un dder Freiheit untergeordnet, folgt dann die Sicherheit, für die der Staat zu sorgen hat. 

6.) Die Proteste um die Verlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofes unter die Erde (Stuttgart21) ziehen sich schon seit letztem Herbst hin. Die Menschen dort finden sich offensichtlich nicht mit dem Bauvorhaben ab, da sie nicht den Nutzen sehen oder der Meinung sind, bei der Planung sei nicht alles mit rechten Dingen abgelaufen. Mithin wird Stuttgart21 als ein Meilenstein der Bürgerbeteiligung betrachtet. Die Bürger sollen frühzeitig und dauerhaft in die Planungen von großen Bauvorhaben einbezogen und beteiligt werden. Wie stehen Sie zu Bürgerbeteiligung?

Ich bin mir noch nicht sicher, ob Stuttgart 21 als Meilenstein der Bürgerbeteiligung in die Geschichte eingehen wird. Dort wird ja eher deutlich, was passiert, wenn man es falsch anpackt. Denn die Menschen wurden erst gefragt, als alle Messen schon gesungen waren. In Mecklenburg-Vorpommern sieht das nicht besser aus. Im Gegenteil. Es gab in unserem Land beispielsweise noch nicht einen einzigen Volksentscheid. Das hat Gründe. SPD und CDU verstehen unter Bürgerbeteiligung ausschließlich das Ehrenamt. Die gesetzlichen Hürden sind hierzulande so gestrickt, solche Instrumente eher zu verhindern als zu befördern. Das wollen wir ändern. Wir wollen die Hürden absenken und neue Formen der Bürgerbeteiligung einführen. Zum Beispiel auf kommunaler Ebene den Bürgerantrag. Auch das Bauplanungsrecht muss verbessert werden, damit die Menschen frühzeitiger eingebunden werden. Mein Ziel ist es, in MV eine Kultur der Bürgerbeteiligung zu schaffen. Da muss sich in den Köpfen auch der Verwaltungen noch viel ändern. Da müssen Blockaden überwunden werden. Aber wir werden davon profitieren. Da liegt noch viel Potenzial brach.  

Vielleicht ist Stuttgart21 nicht unbedingt der Meilenstein für Bürgerbeteiligung im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr für die Einmischung der Bürger, eben weil die Beteiligung an den Planungen ausblieb. Die Bürger sind nicht involviert worden und gehen deshalb nun auf die Straße. Insofern schon ein Meilenstein dafür, daß sich der Bürger diese Bevormundung nicht mehr gefallen lassen will. 
Was die Politik in MV unter Bürgerbeteiligung versteht, konnte ich letzten Dienstag ja erst in der Ortsbereitssitzung in Warnemünde erleben. Die Vorschläge oder Anträge der Bürger wurden meistens vom Ortsbeirat abgeschmettert. Dies führte zu Unmutsbekundungen seitens der Bürger ala "Wozu sitzen wir hier eigentlich überhaupt, wenn wir hier eh keinen Einfluß haben?" Auf der anderen Seite war die Forderung nach mehr Bürgerbeteiligung die meistgestellte am ganzen Abend.

7.) In einigen Ländern wie den USA (data.gov) und Groß-Britannien (data.gov.uk) gibt es Projekte, die öffentliche Daten bzw. Daten der öffentlichen Hand der Allgemeinheit zur Verfügung stellen. Um diese Daten herum haben sich viele interessante Projekte entwickelt. Den Themenbereich kann man mit den Schlagworten Open Data, Open Access und Open Government umschreiben. Wie stehen Sie zu Open Data und Open Government?

Ich finde diese Entwicklungen sehr interessant. Das kann unsere Demokratie echt voranbringen. Das Informationsfreiheitsgesetz auf Landesebene setzt das mehr schlecht als recht um. Ich will eine neue Kultur der Offenheit etablieren. Und davon abgesehen finde ich es auch eine Frage der Fairness. Warum soll ich als Bürger für Daten oder Informationen nochmal aufkommen, die ich als Steuerzahler bereits bezahlt habe? Das gilt auch für mit öffentlichen Geldern geförderter Forschung. Da zahlt das Land bzw. der Steuerzahler doppelt. Er bezahlt die Forschung und hinterher muss er die durch Verlage teuer veröffentlichten Forschungsergebnisse nochmal bezahlen. Das ist durch Irssinn.  


Absolut! Deshalb begrüße ich auch solche Projekte wie "Frag den Staat" oder andere. Deshalb involviere ich mich auch selber in Open Data Projekten.

8.) In den Parlamenten, egal ob Bund, Land oder Stadt, gibt es Politiker, die für gewöhnlich Mitglied einer Partei sind. Bei Abstimmungen wird häufig nach Fraktionsdisziplin abgestimmt. In Artikel 38 GG steht aber, daß Abgeordnete "Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" sind. Sollten Politiker bei Abstimmungen mehr auf ihr Gewissen hören und weniger auf die Fraktionsdisziplin?

Ich werde mich im Landtag nach meinem Gewissen entscheiden. Wir GRÜNEN haben das auf Bundesebene auch immer so gehandhabt, dass jemand, der nicht mit der Fraktionsmeinung stimmen kann, das zwar vorher ankündigt, aber dann seinem Gewissen folgen kann. Da wird auch niemand unter Druck gesetzt.  


So ist das, meiner Meinung nach, auch völlig in Ordnung. Entweder kann die Fraktion dann nochmal versuchen, Überzeugungsarbeit leisten und die Fraktionsempfehlung nochmalig diskutieren, oder aber die Entscheidung hinzunehmen und zu akzeptieren. Wenn aber Abweichler der Fraktionsmeinung in der Fraktion isoliert werden, dann hat das nichts mehr mit der freien Gewissensentscheidung zu tun, die im Grundgesetz postuliert wird.

9.) Zum Schluß: was ist ihr ganz persönliches Herzensthema in der Politik?

Als Geschäftsführerin eines Vereins, der in der Selbsthilfe unterwegs ist, bin ich vor allem sozialpolitisch engagiert. Mein Herzensthema ist da ganz klar: Ich möchte, dass niemand abgehängt wird. Anders als die Linke möchte ich die Menschen dabei nicht entmündigen oder betüdeln. Die Wahrung der Würde und der Selbstbestimmung ist mir ganz wichtig.

Vielen Dank an Frau Gajek für ihre Antworten! Auch hier spreche ich gerne die Einladung zum nächsten netzpolitischen Bier Rostock am 13. September aus, bei dem auch solche Themen wie Open Data und Open Government besprochen werden.

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