Das Grundgesetz und der Präventionsstaat

Nicht nur in Ungarn gibt es Sorge, daß die Demokratie unter die Räder kommen könnte. Auch in Deutschland gibt es Bestrebungen, die Grundrechte zugunsten von erhöhter Sicherheit einzuschränken, die uns das Grundgesetz seit 1949 garantiert. Nicht nur das Zugangserschwerungsgesetz von 2009 ist ein Beispiel hierfür, sondern auch viele andere Gesetze oder Abkommen wie zum Beispiel die Übermittlung von Bankdaten in die USA im Rahmen des SWIFT-Abkommens, die Vorratsdatenspeicherung, die zwar letztes Jahr vom Bundesverfassungsgericht in der bestehenden Form für nichtig erklärt wurde, aber wo die Politik dennoch seitdem nach einem neuen Gesetz verlangt. Es gibt nur viele andere Gesetze, über die ich hier im Blog auch schon ab und zu berichtet habe. Diese alle aufzuführen, würde in diesem Artikel zu weit führen. Das Thema dieses Artikels soll nämlich das, wie ich finde, sehr schöne Plädoyer von Christian Bommarius in seinem Buch "Das Grundgesetz: Eine Biographie" sein, auf das ich vor ein paar Tagen schon einmal kurz als Lesetipp verwiesen habe.

Bommarius behandelt in seinem Buch die Entstehung bzw. die Geschichte des Grundgesetzes und einiger interessanter Hintergründe darüber, bevor er am Ende des Buches auch auf die Entwicklung des Grundgesetzes Bezug nimmt und dabei auch folgende Zeilen schreibt.

Das Grundgesetz: Eine Biographie v. Christian Bommarius S. 257:

Das Menschenbild des Grundgesetzes? Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee hatte es bekanntlich so bestimmt: "Der Staat ist um des Menschen da, nicht der Mensch um des Staates willen." Nicht erst mit dem Luftsicherheitsgesetz, sondern seit den Anschlägen vom 11. September 2001 versucht nicht nur der deutsche Gesetzgeber, die "kopernikanische Wende" im Staatsverständnis und im Menschenbild zurückzunehmen. An die Stelle der Herrenchiemseer Losung soll die Devise treten: "Erst müssen die Menschen für den Staat da sein, damit der Staat für die Menschen da sein kann." Das ist die Parole des Präventionsstaats.

Was ist der Präventionsstaat? Er ist ein Versprechen: Erst wenn alle Worte gehört, alle Schreiben gelesen und nichts mehr verborgen ist, was sich noch heute verbirgt, wenn kein Ausländer mehr unbemerkt deutschen Boden betritt oder verlässt, wenn kein Pass mehr gefälscht werden kann, wenn die Videokamera jeden herrenlosen Koffer erfasst, wenn der Unauffälligste auffällt wie der Auffälligste, wenn sich die Lage im Nahen Osten entspannt, wenn alle Daten erfasst sind vom genetischen Fingerabdruck bis zur Neigung zum Fußpilz, wenn der Autoverkehr kontrolliert wird und der Geldverkehr, der Luftverkehr und der Geschlechtsverkehr, wenn die Gesetze verschärft sind, wenn die Ordnung hergestellt ist, wenn der Krieg gegen die Drogen, gegen den nationalen und den internationalen Terrorismus, gegen das organisierte und das unorganisierte Verbrechen gewonnen ist, wenn nichts mehr geschehen kann, weil alles unter Kontrolle ist … dann wird der Staat eines Tages zumindest erklären können, warum dennoch die Bombe unerlaubt in der U-Bahn explodierte, wie es möglich war, dass der videoüberwachte Terrorist sich im Selbstmordanschlag frei entfalten konnte, aus welchem Grunde also das Unvermeidliche tatsächlich unvermeidlich war und das Unabwendbare nicht abzuwenden.

Die Anapher, derer sich Bommarius hier bedient, erinnert stark an die Weissagung der Cree, was sicherlich auch so beabsichtigt war. Die Wendung mit "dann…" beschreibt dann auch sehr schön, daß all dies nichts nützt. Zumindest nicht, um Terroranschläge zu verhindern. 

Bommarius fährt fort: 

Das Grundgesetz: Eine Biographie v. Christian Bommarius Seite 259

Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte des Einzelnen, nach dem Wort Theodor Heuss’: "Misstrauensaktionen gegen den Missbrauch der staatlichen Macht". Sie sind Garantie für jedermann, den Staat auf Abstand zu halten, und darum der natürliche Gegner des Präventionsstaats. Weil er sich nicht darauf beschränkt, Verbrechen aufzuklären (Repression), sondern bereits die Möglichkeit des Verbrechens (Prävention) bekämpft, und weil ein Verbrechen jederzeit, an jedem Ort, durch jedermann geschehen kann, wird alle Zeit zur potentiellen Tatzeit, jeder Ort zu einem potentiellen Tatort und jedermann zu einem potentiellen Täter.
Wenn aber jeder, bis zum Beweis des Gegenteils, verdächtig ist, dann gibt es keine Bürger mehr, sondern nur mehr potentielle Verbrecher. Dann sind auch die Grundrechte nicht länger Schutzräume der Person, sondern Rückzugsräume, Hege- und Pflegestätten des Verbrechens. Der Präventionsstaat betrachtet die Privatheit vor allem als Refugium des Kriminellen, die Berufung auf private Geborgenheit als möglichen Vorwand für sinistre Pläne.

Bommarius schildert sehr zutreffend, wie die Auswirkungen einen solchen Präventionsstaats sein werden: anstatt unschuldiger Bürger, wird der Bürger im Präventionsstaat als potentieller Verbrecher angesehen.

Bommarius endet in seinem Buch mit folgendem Absatz: 

Das Grundgesetz: Eine Biographie v. Christian Bommarius Seite 263

Die Belagerer haben Geduld. Die Zeit ist ihr treuester Verbündeter. Fällt die Bastion nicht in diesem, dann im nächsten Jahr, kapituliert sie nicht heute, dann morgen nach einem Terroranschlag hier oder dort. Hilfe von außen hat die Bastion kaum zu erwarten. Die Ausrufung des Belagerungszustands, die die Verteidigung erleichtern und die Aussichten des Eingeschlossenen spürbar verbessern würde, scheitert bisher am deutschen Souverän, den Bürgern. Groß ist zwar nach 60 Jahren die Liebe der Deutschen zum Grundgesetz, aber offenbar nicht groß genug, ihm und seinem Hüter in schwerster Bedrängnis zu Hilfe zu eilen. Aber zumindest ein wenig mehr Verständnis könnten beide von ihnen erwarten.

Dies ist zweifelslos als Aufruf an die Leser zu verstehen, sich für das Grundgesetz und die darin garantierten Grundrechte einzusetzen und sich dem ständigen Bestreben zu widersetzen, daß diese Grundrechte über kurz oder lang eingeschränkt oder gleich ganz zu Fall gebracht werden könnten. Ungarn ist hier sicherlich eine aktuelle Mahnung, wie schnell grundlegende Elemente der Demokratie abgeschafft werden können. Das Grundgesetz und die darin enthaltenen Grundrechte, die uns die Väter und Mütter des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat 1948/49 geschenkt haben, müssen jeden Tag aufs Neue verteidigt und – wenn notwendig – zurückerobert werden.

Alle, die sich also in Arbeitskreisen, Vereinen oder sogar Parteien für den Erhalt und die Wahrung von Grundrechten einsetzen, handeln im Sinne des Grundgesetzes und für die Demokratie! Weiter so und nicht nachlassen!

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