Tauss, Böhning, Richel

Nachdem gestern um Mitternacht die Petition gegen Internetsperren ausgelaufen ist, wollen die Damen und Herren Volksvertreter morgen das Gesetz in 2. und 3. Lesung trotz aller Proteste von Fachleuten beschließen und feiern das auch noch als großartige Leistung. Die Betroffenen sehen das naturgemäß anders. Und sogar die Presse scheint (bis auf einige Ausnahmen) allmählich zu begreifen, daß es eben doch nur vordergründig um Kinderpornografie zu gehen scheint und eine geschaffene und etablierte Zensurinfrastruktur auch nicht vorteilhaft für ihren eigenen Berufsstand ist.

So schreibt Thomas Knüwer z.B. im Handesblatt:

Für jene, die sich nicht mit dem Thema beschäftigt haben, ist es schwer zu glauben: Morgen wird der Bundestag mit den Stimmen von CDU und SPD ein Gesetz verabschieden, das die Gewaltenteilung zwischen Judikative, Exekutive und Legislative aufhebt. Jene Gewaltenteilung, die in Art. 20 des Grundgesetzes festgeschrieben ist.

[…]

Es ist ein Dammbruch für die Demokratie und ein zynischer Missbrauch des Leides vergewaltigter Kinder. Wer Kinderpornos bekämpfen will, hat dafür ausreichende rechtliche Mittel – auch im Internet. Was fehlt, sind Kapazitäten für die Ermittler. Wer aber glaubt, dass jene Sperren, die sich in Sekunden von jedermann umgehen lassen, Kinderschänder vor Gericht bringen, darf als naiv bezeichnet werden. Dies haben zahlreiche Experten erläutert, doch weder Familienministerin Ursula von der Leyen noch Innenminister Wolfgang Schäuble mochten zuhören. Die Antworten auf eine Bundestagsanfrage der FDP zeigten: Die Bundesregierung hat sich weder mit den Sperrlisten anderer Länder befasst, noch hat sie Wissen über den Kinderporno-Markt. Das aber hatte sie zuvor behauptet.

Ein wesentliches Merkmal von Demokratie ist eben die Gewaltenteilung – und auch parallel dazu die Kontrolle durch die unabhängige Presse. Wenn nun aber die Gewaltenteilung teilweise aufgehoben wird, kann die Presse auch nicht mehr ihre Kontrollfunktion ausüben, da aufgrund fehlender Transparenz entscheidene Dinge im Verborgenen nicht nachvollziehbar geschehen.

Jörg Michel schreibt in der Berliner Zeitung:

Mit ihrem blinden Aktionismus nimmt die Koalition aber in Kauf, dass das freie Internet immer mehr in Gefahr gerät – und zwar besonders für unerfahrene und unbescholtene Bürger. Zwar wird das Gesetz zunächst befristet. Der Dammbruch aber ist da: Die Regierung baut jetzt eine Zensurinfrastruktur auf, die man jederzeit ausweiten kann. Die mögliche Liste ist lang: Warum nicht auch gewalttätige Filme verbieten? Oder sonstiges angeblich anstößiges Material? Längst wird in der Politik schon darüber diskutiert, wie man sich das neue System sonst noch zu Nutze machen könnte. Oft nur hinter vorgehaltener Hand. Immer öfter aber auch ganz ungeniert. Bildungsministerin Annette Schavan etwa hat Gewaltseiten im Visier. Die hessische Landesregierung Glücksspiele. Der CDU-Abgeordnete Thomas Strobl Killerspiele.

Irgendwann sind auch missliebige Meinungsäußerungen dran. Der Weg zur Diktatur ist dann nicht mehr allzu weit. Nicht zufällig sehen die Regierenden in Ländern wie China oder – ganz aktuell – auch im Iran im Netz die größte Gefahr für ihren Machtanspruch. Auch für selbst ernannte Moralapostel oder sonstige religiöse oder ideologische Eiferer ist das Web ein Graus. Denn es schafft eine bislang beispiellose Vielfalt, Transparenz und Nähe zwischen Menschen, die sonst nicht zueinander gefunden hätten. Das Internet eröffnet eine neue Dimension der Freiheit, die es so noch nicht gegeben hat.

Wie Michel sehr richtig schreibt, ist die Bundesregierung immer vorne mit dabei, wenn es darum geht, die Zensur in anderen Ländern wie China und auch aktuell im Iran zu verurteilen, baut aber gleichzeitig im eigenen Land eine entsprechende Infrastruktur auf, von der es zunächst nur heißt, daß sie gegen die Mißbrauchsdokumentation von Kindern eingesetzt werden soll. Aber noch bevor das Gesetz verabschiedet ist, werden schon Begehrlichkeiten laut.

Nunja, das Gesetz ist wohl so gut wie durch, das Thema aber noch längst nicht!

UPDATE:
Auch Marc Heckert schreibt in einem Artikel und Kommentar in der Aachener Zeitung:

Für ganze Generationen ist heute ein frei zugängliches Internet selbstverständlicher Teil ihrer Lebenswelt. Sie sehen diesen wesentlichen Pfeiler einer demokratischen Informationsgesellschaft bedroht durch undurchschaubare staatliche Filtermechanismen.

Bedenken, die nur zu berechtigt sind: Spätestens beim nächsten Schul-Amoklauf wird der hilflose Ruf nach dem Sperren angeblich gewalttätiger Seiten wieder ertönen. Wie lange werden künftige Regierungen der Verlockung widerstehen, mit dem Zensieren missliebiger Webseiten ein billiges Zeichen von Aktionismus zu setzen?

Dabei wäre es leicht, Kinderpornografie komplett zu löschen, statt nur Stoppschilder davorzustellen. Europäischen und amerikanischen Providern genügt oft nur ein Hinweis, um illegale Inhalte auf ihren Rechnern umgehend zu entfernen. Warum deutsche Behörden dazu oft mehr als vier Wochen brauchen, ist nicht nachvollziehbar. Hier sollte angesetzt werden.

Dass die große Koalition sich just an dem Abend auf den Gesetzentwurf verständigte, an dem die Online-Petition dagegen zur meistunterzeichneten aller Zeiten wurde, hat Symbolwert. Die Enttäuschung der Internet-Gemeinde ist gewaltig, insbesondere das Einwilligen der SPD sorgt für Verbitterung.

Politikverdrossenheit hat viele Ursachen. Wenn der Bundestag das Sperrlistengesetz morgen abnickt, gibt es eine mehr.

Eigentlich gibt es da nicht mehr viel mehr zu zu sagen…

UPDATE2:
Auch ein sehr guter Artikel: Wie die SPD ihre Online-Gefolgschaft verprellt von Klas Roggenkamp in der Welt

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2 thoughts on “Tauss, Böhning, Richel

  1. Tja,
    nur leider kommt die Einsicht weniger SPDler zu spät. Die Koalition (natürlich mit der SPD) hat das Gesetz jetzt soweit in trockne Tücher. Es kann am Donnerstag beschlossen werden und der Bundestag (der ja Bedenken geäussert hat) ist nicht zustimmungspflichtig. Toll – die Bürger wollen zwar was anderes, aber wir machen trotzdem was wir, und unsere Lobby, will. Da darf sich die SPD nicht wundern wenn sie in ähnlichen Regionen wie die FDP liegt.
    Und über politikverdrossenheit darf sich auch keiner beschweren!

    Udo

  2. Du meinst, der Bundesrat hat Bedenken geaeussert?

    Mal davon abgesehen, waere es schlecht fuer die Demokratie, wenn die SPD tatsaechlich noch weiter an Bedeutung verliert. Die Union haette dann ja praktisch keinen politischen Gegner mehr. Eine Koalition aus SPD, Gruene und FDP ist ja auch eher unwahrscheinlich.

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