Stuttgart21 und der Tunnel der B1

Bei Stuttgart21 wird den Gegnern von den Befürwortern ja immer vorgeworfen, fortschrittsfeindlich zu sein. Es ginge ja schließlich um die Zukunft und wenn man Stuttgart21 nicht bauen könne, könne man ja gar nichts mehr in Deutschland bauen. Dabei hört es sich immer so an, als wenn die Politiker nun völlig davon überrascht seien, daß jemand mal gegen Bauvorhaben ist. Dem ist aber nicht so.

Die Bürger waren nicht nur gegen Brokdorf und Wackersdorf, gegen Gorleben und Asse, sondern auch schon gegen andere Bauvorhaben. Doch zunächst einmal zu den damaligen Brokdorf-Demonstrationen. Die Autoren Maximilien Steinbeis, Marion Dietjen und Stephan Dietjen schreiben in ihrem Buch "Die Deutschen und das Grundgesetz – Geschichte und Grenzen unserer Verfassung" auf Seite 213 z.B. folgendes: 

1985 nahm das Bundesverfassungsgericht die Brokdorf-Demonstrationen zum Anlass, das Recht, sich friedlich zu versammeln, mit einem starken Schutzwall gegen die Hüter von Sicherheit und Ordnung zu umhegen: Die "Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe" durch Demonstration sei nötig, um ein Gegengewicht gegen Lobbyismus und Massenmedien zu schaffen. "Grosse Verbände, finanzstarke Geldgeber oder Massenmedien können beträchtliche Einflüsse ausüben, während sich der Staatsbürger eher als ohnmächtig erlebt." Im kräfteparallelogramm der politischen Willensbildung könne sich "erst dann eine relativ richtige Resultante herausbilden (…), wenn alle Vektoren einigermaßen kräftig entwickelt sind." Dem Einzelnen bleibe, außer dem Engagement in Parteien und Verbänden, nur die Möglichkeit, sich mit vielen anderen auf die Straße zu stellen. Dieses Recht dürfe man ihm nicht nehmen, schon um "dem Bewusstsein politischer Ohnmacht und gefährlichen Tendenzen zur Staatsverdrossenheit" keinen Vorschub zu leisten.

Eine erstaunliche Einschätzung, die das BVerfG 1985 da getroffen hat. Genau das passiert ja nun in Stuttgart und die Politik täte gut daran, diese politische Willensbildung auf der Straße zu honorieren und zu achten, anstatt diese "aus der Stadt treiben" zu wollen, wie das einige Befürworter äußerten.

Interessanterweise schildern die Autoren des Buches auch gleich noch einen anderen Fall von Tunnel-Manie auf Seite 214: 

Die erste Bürgerinitiative, die den Sprung in ein gewähltes Gremium schaffte, kam aus Zehlendorf, einem bürgerlichen Villenvorort im Südwesten Berlins, und hatte mit Kernkraft, Frieden und sonstigen Welt- und Lebensthemen nichts zu tun – sehr wohl aber mit dem verbreitetem Misstrauen gegen die etablierte Politik: Stein des Anstoßes war der Plan der Kommunalverwaltung, einen großen Tunnel zu bauen und die verkehrsreiche Bundesstraße 1 unter die Erde zu verlegen. Der Plan war korrekt beschlossen worden, und seine kommunalpolitischen Urheber empfanden den Bürgerprotest als illegitim und lästig. Daraufhin entschlossen sich die betroffenen Bürger aus Zehlendorf-Mitte, 1975 zu den Kommunalwahlen anzutreten. […] Die "Wählergemeinschaft Unabhängiger Bürger" klagte [gegen die Nichtzulassung] und gewann. Sie musste zugelassen, die Wahl wiederholt werden. Der Erfolg blieb nicht aus: Wie WUB landete bei spektakulären 12.9 Prozent und schickte sechs Abgeordnete in die Bezirksverordnetenversammlung. Der Tunnel wurde nie gebaut.

Bis auf die Gründung einer Partei zeigen sich frappierende Parallelen mit Stuttgart21 auf. Es sollte ein Tunnel gebaut werden, der den Bürger sicherlich als Fortschritt und Zukunft verkauft wurde. Es gab Proteste dagegen und die Politiker empfanden diese – wie auch heute bei Stuttgart21 als illigitim und lästig. Die WUB bildete sich jedoch dann und vermasselte den Politikern die Suppe.

Haben die Politiker etwas aus der Geschichte gelernt? Nein. Sieht man ja eben heute bei Stuttgart21. Und darum ist es richtig und auch wichtig, daß die Proteste in Stuttgart weitergehen. Nicht nur für Stuttgart, sondern insgesamt für das Demokratie-Verständnis aller Bundesbürger. Denn wie das BVerfG schon 1985 urteilte: Das Recht der Bürger, massenhaft sich in Demonstrationen zu versammeln, ist ein wesentliches Grundrecht und notwendig, die Kräfteverhältnisse in der Demokratie zu justieren.

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